Das Schöne an sportlichen Großveranstaltungen ist, sie lassen sich so gut vorhersagen. Alles ist perfekt organisiert, sogar das Wetter zeigt sich von seiner besten Seite. Es gewinnen immer die von den Experten erwarteten Favoriten, schließlich haben diese schon vorher immer die besten Leistungen beim Sport oder beim Dopen gezeigt. Davon gehen zumindest die Sportreporter und -moderatoren von ARD und ZDF aus, denn jedes überraschende Ergebnis ist für sie unfassbar. Das Trendwort bei den Europameisterschaften in München ist zweifelsfrei „unfassbar“. Es lässt andere Adjektive weit hinter sich – sogar das sehr beliebte „absolut“ (absolute Weltklasse, absolute Entscheidung, absolute Legende). Es hat sogar das sonst gern genutzte Wort „sensationell“ abgelöst, das bei früheren Sportevents oft vorherrschend war.
Die Stimmung in den Hallen und im Olympiastadion ist jetzt ständig „unfassbar“. Wenn die Hälfte der teilnehmenden Länder eine Medaille auf dem Konto hat, ist dies „unfassbar“. Der schwedische Rekord-Stabhochspringer Armand Duplantis erzielt schon bei 5,85 Metern eine „unfassbare“ Leistung, obwohl dessen Rekord bei 6,21 Metern steht. Der deutsche Stabhochspringer Bo Kanda Lita Baehre ist schon „unfassbar“ cool, bevor er als Silbermedaillengewinner feststeht. An jedem Tag der Übertragungen fällt das Wort mindestens ein Dutzend Mal. Nur als die deutsche Läuferin Lea Meyer am späten Samstagabend überraschend Silber über 3000 Meter Hindernis gewinnt und dabei ihre Bestzeit um 10 Sekunden verbessert, fällt den Reportern das diesmal wirklich passende Wort „unfassbar“ erst ganz am Schluss ein. Es sei ihnen verziehen, vielleicht waren sie diesmal wirklich von der unglaublichen Leistung der 24-Jährigen überwältigt.
Selbst für Reporter und Moderatoren, die schon viele Sportereignisse live miterleben durften, ist so vieles einfach unfassbar. Vermutlich brauchen sie deshalb auch mehr Zeit als die Zuschauer und die Sportler, um das Ergebnis eines Wettbewerbs zu realisieren. Schließlich fragen sie gerne die Sportler, wenn sie noch nach Luft japsend vor das Mikrofon treten, ob er oder sie schon realisiert habe, den Titel oder eine Medaille gewonnen zu haben. Nur mal zu Erklärung: Wenn ein Sportler sich auf eine Europameisterschaft vorbereitet, sich für das Finale qualifiziert und dann zum Beispiel als Erster über die Ziellinie läuft, dann weiß er, er ist Europameister. Im Zweifel findet er das Ergebnis sofort an der Anzeigetafel aufleuchten. Wenn er oder sie so kurz nach dem Wettbewerb – besonders nach einem überraschenden Sieg – die enormen Gefühlswallungen noch schwer in Worte fassen kann, ist das leicht nachvollziehbar. Siegerinnen wie Gina Lückenkemper (100 Meter) oder Konstanze Klosterhalfen (5000 Meter) taten deshalb das Richtige: Sie nahmen sich Zeit und lebten ihre Gefühle auf der Bahn aus, bevor sie zum Interview kamen.
Es gibt so viele wunderbare Adjektive, die besondere Stimmungen oder überraschende Leistungen beschreiben können und unsere Sprache so schön machen: außergewöhnlich, beeindruckend, überwältigend, großartig, eindrucksvoll, beachtlich, glanzvoll… Aber vermutlich wählten die Moderatoren und Reporter von ARD und ZDF vor Beginn der European Championships in neun Sportarten ihr Lieblingswort aus, um in der Hektik der vielen Wettbewerbe Zeit für die wirklich wichtigen Fragen zu sparen. Letztlich setzen sie damit nur den Trend zur unfassbaren Verarmung unserer Sprache fort.