Wenn die Menschen früher in die Stadt gingen – was nicht allzu oft vorkam – legten sie das feine Gewand an. Vom Scheitel bis zur Sohle waren der Herr und die Dame stilvoll gekleidet. Sehen und gesehen werden, hatte eine Bedeutung. Wenn auch selten, in manchen Straßen großer Städte wird den Augen der Freunde edler Robe auch heute noch geschmeichelt.
Die Mode ist sportiv geworden. Jogginghosen und Leggins prägen das Straßenbild, dabei befinden sich die wenigsten auf dem Weg zum Fitnessstudio. Die meisten anderen hatten sich wahrscheinlich zu lange in Instagramkanälen von Promisternchen oder in Videos von Gangsta Rappern verirrt. Modesünden kann sich eben nur leisten, wer bereits in Reichtum badet oder sich seinen Ruf nicht mehr zerstören kann.
Modedesigner Karl Lagerfeld hat einmal den bedeutungsschweren Satz gesprochen, wer in Jogginghosen – dabei schloss er wohl auch Leggins ein – das Haus verlässt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren. Könnte der gute Karl noch durch die Innenstädte flanieren, wäre er sicherlich peinlich berührt, wenn er sähe, wie viele Menschen von Kontrollverlust befallen sind. Leider hat Philosoph Lagerfeld nicht seine Thesen zu Papier gebracht, welche zerstörerischen Folgen ein um sich greifender Kontrollverlust für unsere Gesellschaft hat.
Vermutlich werden die meisten Anhänger der Jogginghose das steife, unbequeme wirkende Outfit, das der Modeschöpfer zu tragen pflegte, auch nicht als modisches Vorbild ansehen. Jedenfalls hat die Corona-Pandemie mit dem damit verbundenen Trend zum Homeoffice der Jogginghose zu außerordentlicher Beliebtheit verholfen. Für eine Videokonferenz reicht es schließlich, sich ein Hemd oder eine Bluse anzuziehen.
Für den kurzen Einkauf lohnt es sich nicht mehr, sich des Schlabberlooks zu entledigen, zumal nach den Stunden vor dem heimischen Computer ja nur noch der kurze Weg zum Sofa ansteht. Außerdem lassen sich mit der Jogginghose leichter die in der Coronazeit angesammelten Pfunde verbergen. Trotz hoher Spannkraft erzielt die Leggins hingegen selten bessere Ergebnisse.
Ist es nun Resignation oder Geschäftstüchtigkeit, wenn die Hersteller von Hosen den Trend zur Homeoffice-Kleiderkultur befeuern? Mit Jogpants, Jeggings oder Treggings wollen sie die Jogginghose veredeln. Vermutlich würde Karl Lagerfeld seine Abneigung auch gegen diese Kleidungsstücke unmissverständlich ausdrücken. Der besonderen Zeiten wegen und um überhaupt noch Menschen zum Kleiderkauf zu bewegen, müsste sich der Altmeister vielleicht dazu herablassen, in der Sparte kreativ zu werden. Eine Chanel-Jogginghose für 500 Euro wäre aber auch keine Lösung.
Oktober 2020