Viele Menschen sind froh, wenn sie dieses Jahr hinter sich lassen können. 2022 war jedoch nicht so schlecht, wie es häufig bewertet wird. Es gab überraschend viel Positives. Legen wir die drei Lieblingswörter der Sportreporter und ihrer beisitzenden Experten dieser Einschätzung zugrunde, war es sogar ein absolut, unfassbares, sensationelles Jahr. Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft erfüllte diese Bewertung durchaus, sie wurde in England Vize-Europameister. Selbst die Männer zeigten einen starken Aufwärtstrend und wurden in ihrer Vorrundengruppe Dritter mit einem Sieg und einem Remis. 2018 hatten sie nur den vierten Gruppenplatz mit zwei Niederlagen geschafft.
Die sportlichen Gewinner des Jahres waren jedoch die Stadt München und ihre Bürger, die die neun Europameisterschaften in der Stadt zu einem unvergesslichen Ereignis machten. Die Sportler dankten es mit zahlreichen überraschenden Siegen. Einige Politiker interpretierten die gute Stimmung als großen Wunsch der Menschen für eine weitere Olympia-Bewerbung. Da haben sie allerdings etwas völlig missverstanden.
Als besonders flexibel zeigt sich der britische Arbeitsmarkt und erweist sich als Vorbild für andere Nationen. Wo sonst ist es möglich, nach Jahrzehnten der Arbeitslosigkeit mit 74 noch Staatsoberhaupt oder mit asiatischen Wurzeln Premierminister zu werden. In Großbritannien dürfen sogar Premierminister zur Probe arbeiten, Liz Truss nutzte diese Gelegenheit, um 44 Tage zu testen, ob sie für diese Aufgabe geeignet ist. Das Stehaufmännchen der Politik schlechthin ist Benjamin Netanjahu. Er wurde in Israel schon zum 6. Mal zum Premierminister gewählt, obwohl er erst 73 Jahre alt ist und häufig mit den Gesetzen auf Kriegsfuß steht. Selbst die Italiener mit ihrem Vorbildpolitiker, dem ewigen Silvio Bunga Bunga Berlusconi, können da nur staunend gen Osten schauen. Toppen können dies nur die Brasilianer, die einen zu 12 Jahre Haft verurteilten Politiker an die Spitze ihres Staates wählten, um einen anderen Spitzbuben abzuwählen.
2022 war das Jahr der Finanzexperten. Kochprofi Alfons Schuhbeck ersetzte mangelndes kaufmännisches Talent durch kriminelle Energie. Nachhilfestunden in Buchhaltung kann er nun im Gefängnis nehmen. Dort wird sich wahrscheinlich auch die Führungsriege von Wirecard einfinden, einem findigen Unternehmen, das fast die ganze Welt finanziell verarschte. Während dabei Vorstandschef Markus Braun nun in der Rolle des Opfers glänzt, zeigt Finanzvorstand Jan Marsalek unglaubliche Zauberkünste. Er ließ nicht nur Geld, sondern auch sich selbst verschwinden. Weniger talentiert im Fach Bereicherung erwies sich die Führungsriege des Senders RBB um Intendantin Patricia Schlesinger. Sie füllten sich plump und gierig ihre Taschen mit Geld. Dass man sich sogar als Multimilliardär zum Deppen machen kann, bewies Elon Musk, in dem er 44 Milliarden Dollar für Twitter zahlte, um das Unternehmen zu demontieren.
Wie man sich dagegen legal bereichert, demonstriert eindrucksvoll die Lebensmittelindustrie. Sie ist eine Meisterin in Preiserhöhungen, weil sie die Inflationsrate des Jahres als eine des Tages anwendet. Sie unterstützt zudem den Trend der Verbraucher nach „weniger ist mehr“, indem sie weniger Inhalt zum höheren Preis verkauft. Ebenso clever verhielt sich die Mineralölindustrie. Sie erhöhte die Spritpreise so lange, bis die Bundesregierung einen Tankrabatt gewährte, den die Mineralölkonzerne in Sonderboni für sich umwandelte. Großes Lob hat sich die Europäische Zentralbank verdient, sie hat die Zusammenhänge zwischen Preissteigerung und Inflation schnell erkannt und sofort mit Zinserhöhungen reagiert. Traurig sind darüber nur die Geschäftsbanken, weil sie nun kein Verwahrentgelt für Geld mehr erheben können, stattdessen für Guthaben wieder Zinsen zahlen sollen.
Obwohl es seit Jahren viele Kriege auf der Welt gibt, bedurfte es eines Putins mit Großmachtfantasie, um der Mehrheit der Europäer zu verdeutlichen, dass sich Menschen gerne gegenseitig umbringen, sobald sie von einem Diktator dazu aufgefordert werden. Nachdem die Russen in Afghanistan und Syrien geübt haben, nutzen sie nun ihre Erfahrungen, um zu zeigen, wie man die Brüder und Schwestern in der Ukraine vor dem Unheil aus dem Westen schützt, indem man sie tötet. Dabei beschrieb Friedrich Schiller schon 1804 in seiner Tragödie Wilhelm Tell: „Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.“
Natürlich gibt es in jedem Krieg und in jeder Krise Gewinner. Zu den Profiteuren des Jahres zählen die Rüstungsindustrie und die Bundeswehr. Die Rüstungskonzerne erfreuen sich an einem Imagegewinn und Milliardenaufträgen. Die Bundeswehr erhält über ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro die Möglichkeit, zur Armee zu werden. Nebenbei hat die Bundesregierung den finanziellen Stein der Weisen gefunden. Um sich auch Dinge leisten zu können, die sich eigentlich nicht leisten kann, braucht sie keine Schulden mehr zu machen. Sie gründet ständig neue Sondervermögen. Diese Form der wundersamen Geldvermehrung akzeptiert das Finanzamt in der Steuererklärung bei Privatleuten nicht. Sie müssen andere Wege der Schummelei finden.
Das Jahr 2022 ist auch das Jahr der vielen Erkenntnisse. Wir haben gelernt, dass alles mit allem auf der Welt zusammenhängt. Der Klimawandel ist überall – auch bei uns. Er lässt sich jedoch nicht aufhalten, wenn sich ein paar Aktivisten der selbsternannten „Letzten Generation“ auf die Straße kleben oder Lebensmittel auf Gemälde werfen. Dabei wissen wir bereits, diese Menschen werden nicht die letzte Generation auf Erden sein, obwohl sie sogar versuchen, sich mit vermehrtem Zigarettengenuss auszurotten.
Die aktuelle Corona-Pandemie scheint auszulaufen, aber es wird nicht die letzte sein. Fragen Sie die Chinesen, die wissen, wie man so was macht. Wir haben endlich erkannt, wie wir uns abhängig gemacht haben von internationalen Lieferketten oder von Ländern mit übersteigertem Geltungsdrang wie Russland oder China. Wir können vieles nicht mehr oder einiges noch nicht selbst oder das Streben nach mehr Gewinn vernebelt uns die Augen. Viele Politiker und Journalisten verstehen allerdings nur langsam, dass man die Abhängigkeit zwar verringern, die Unabhängigkeit aber nicht vergrößern kann.
Es gibt noch so vieles, was wir auch 2022 nicht verstanden haben. Warum ist möglich, dass in so vielen Ländern die Männer noch immer die Frauen unterdrücken können. Aber selbst in Ländern wie Afghanistan, Iran oder Saudi-Arabien wird die Intelligenz der Frauen irgendwann über die Dummheit der Männer siegen. Dass es selbst in demokratischen Ländern mit angeblich unbegrenzten Möglichkeiten wie die USA möglich ist, das Selbstbestimmungsrecht der Frauen – wie das Recht auf Abtreibung – einzuschränken, gehört zu den großen Rätseln des Jahres.
Letztlich haben wir 2022 noch vieles mehr gelernt. Erstens: Frieden, Demokratie, Menschenrechte, Meinungs- und Pressefreiheit sind niemals selbstverständlich. Wir müssen ständig dafür kämpfen. Zweitens: Europa kann stark werden, wenn die Nationen ihre Egoismen überwinden und eng zusammenarbeiten. Drittens: Günstiges, einfaches Zugfahren durch ganz Deutschland wäre möglich, gäbe es ausreichend Züge, Schienen und Personal bei der Deutschen Bahn. Viertens: 2023 wartet viel Arbeit auf uns.
Schöner, sprachlich gewitzter Rückblick
Prägnant, alles wichtige drin, gut verpackt. 👍