Der Schmetterlingseffekt ist eine schöne Theorie. Sie beschreibt, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings im brasilianischen Regenwald einen Tornado in Texas, USA auslösen könne. Unter Wissenschaftlern ist sie zwar umstritten, aber sie erklärt anschaulich, dass nicht vorhersehbar ist, wie sich eine kleine Veränderung der ursprünglichen Bedingungen eines Systems langfristig auf die Entwicklung des Systems auswirken kann.
Wir können dieses Phänomen gut verwenden, um die Auswirkungen von kleinen Ereignissen in der höchstsensiblen Mineralölindustrie zu erklären. Es gibt keine Branche, die sich besser dafür eignet: Wenn in China ein Sack Reis umfällt oder in Katar ein ausländischer Bauarbeiter vor Erschöpfung vom Gerüst fällt, sorgen die Kommunikationswellen rund um den Erdball für eine Schockreaktion auf dem Ölmarkt. Deshalb ist eine Tankstelle in Brunsbüttel oder in Berchtesgaden gezwungen, den Spritpreis drastisch zu erhöhen. Genau genommen gilt dies für alle Tankstellen, denn dies wird von den Firmenzentralen per Knopfdruck für ganz Deutschland vorgenommen. Wir können allerdings nicht erklären, warum dann bei Tankstellen des gleichen Konzerns sich zum Beispiel in München die Preise im Osten von denen im Westen der Stadt um mehrere Cent zur gleichen Zeit unterscheiden können. Das wäre eine schöne Aufgabe für eine Doktorarbeit.
Negative Nachrichten von den Weltmärkten beeinflussen die Spritpreise unmittelbar. Weil ständig negative Nachrichten auf uns und die Mineralkonzerne hereinprasseln, können die Unternehmen meist nur für kurze Zeit die Preise senken, obwohl sie gerne ihre geringen Überschüsse mit den Autofahrern teilen würden. Kaum ist der Preis gesunken, kommt die nächste Horrormeldung, die wie ein Hurrikan durch die Mineralölindustrie fegt. Deshalb muss sie die Spritpreise wieder anheben. Hinter verborgener Hand sagen Manager der Branche – sie wollen ihre Namen nicht nennen –, wie sehr sie dies schmerzt, aber sie könnten nicht anders, um nicht als Verräter dazustehen. Die Medien haben eine Mitschuld an diesem Dilemma. Würde diese nicht überwiegend negative Nachrichten verbreiten, bräuchten die Tankstellen nicht ein Dutzend Mal am Tag die Preise zu verändern.
Früher musste ein Mitarbeiter einer Tankstelle mindestens alle Stunde bei der Konkurrenz vorbeifahren und sich deren Preise abschreiben. Dann musste der Tankwart seine Zentrale anrufen, um zu melden, die Tanke von der Konkurrenz sei zwei Pfennig billiger, deshalb habe er keine Kunden mehr. So bekam er die Freigabe, seine Leiter zu holen und von Hand – Zahl für Zahl – die Literpreise auf den Anzeigetafeln zu verändern. Das war sehr harte körperliche Arbeit, die nicht angemessen bezahlt wurde. Deshalb gibt es heute keine Tankwarte mehr.
Heute können die Konzerne dank digitaler Technik den Preis minütlich ändern und sofort angemessen auf die schwierigen Entwicklungen reagieren. Zur Information braucht niemand mehr spionieren. Die Unternehmen verfügen, wie die Verbraucher über die Vergleichsapps. Dass die Bosse in dunklen Hinterzimmern die Preise abgesprochen haben, war schon immer ein Märchen, dann hätten die Bosse fast nichts anderes mehr machen können. Selbst die scharfen Hunde vom Kartellamt haben in all den Jahrzehnten nie eine Absprache zwischen den Mineralölkonzernen feststellen können. Es ist wie beim Doping: Wer nicht überführt wird, ist sauber. Der ständige Vorwurf des Kartells ist nur der Neid der anderen, weil die Mineralölbranche gelernt hat, sich so intelligent auf die harten Rahmenbedingungen einzustellen. Selbst die vier großen Lebensmittelkonzerne sind mit ihrer Reaktionen auf veränderte Butter- oder Milchpreise der Konkurrenz nicht ganz so schnell, aber sie lernen dazu.
Sollten es wirklich stimmen, dass die Mineralölsteuersenkung nicht komplett an die Verbraucher weitergegeben wird, sollten wir nachsichtig sein und ihnen wegen ein paar Cent nicht gram sein. Wer in einer so gebeutelten Branche arbeiten muss, dem sollte ein wenig Schmerzensgeld zustehen.