Ein angestellter Mensch weiß in der Regel, wann seine offizielle Lebensarbeitszeit endet und das Rentenalter beginnt. Schauspielern, Sängern, Sportlern oder auch Politikern fällt es hingegen oft schwer zu erkennen, wann der beste Zeitpunkt ist aufzuhören. Wer über Jahre im Rausch des Applauses, der Erfolgszahlen oder der Macht gelebt hat, mag nicht loslassen. Sie wollen es nicht wahrhaben, wenn der Körper, der Geist oder gar das Aussehen nicht mehr den Ansprüchen genügen, die an ihn oder sie gestellt werden. Die Angst ist groß, nach der Karriere in ein großes Loch zu fallen.
Im stolzen Alter der siebziger oder gar achtziger 80 Jahre wissen die meisten Menschen, dass die Welt auch ohne sie mehr oder weniger gut funktioniert. Sie können sich entspannt zurücklehnen und bei Bedarf, aus einer langen Lebenserfahrung heraus, ihre Meinung beisteuern. Politiker sind gegen die Erkenntnis der Entbehrlichkeit erstaunlich häufig immun. Deshalb brauchen Sie – besonders wenn die Beine nicht mehr richtig mitspielen – Unterstützung, um beiseitetreten zu können. Das funktioniert in Demokratien normalerweise recht gut. In Autokratien braucht es dazu stärkeren Druck, bisweilen gar Gewalt, um das verkrustete Machtsystem zu knacken.
In diesen Wochen stehen die USA als Paradebeispiel für Entwicklungen, wie sie in einer Demokratie ablaufen können. Zwei alte Männer, die ihren körperlichen und geistigen Zenit längst überschritten haben, versuchen verzweifelt sich an der Macht zu halten. Sie wollen noch einmal US-Präsident werden. Dann ermöglicht die eine Partei nach einer gewissen Überzeugungsarbeit, ihrem potenziellen Präsidentschaftskandidaten Joe Biden gerade noch rechtzeitig einen würdevollen, ehrenhaften Abgang. Eine neue Dynamik in der Partei, aber auch im Land entsteht. Der andere, Donald Trump, wird von seinen Republikanern noch mit Begeisterung getragen und kann wohl selbst mit einem klaren Wahlergebnis nicht überzeugt werden, dass seine Zeit vorbei ist.
Übertragen wir das Szenario auf Deutschland. Angela Merkel und Helmut Kohl waren zum Ende ihrer jeweiligen Kanzlerschaft zwar erst 67 bzw. 68 Jahre alt. Viele Bürger, auch viele CDU-Parteimitglieder waren jedoch überzeugt davon, es wäre für beide besser gewesen, nach der dritten Amtsperiode aufzuhören. Sie galten trotz ihres im Vergleich zu Trump und Biden jugendlichen Alters als verbraucht. Was hätte wohl ein CDU-Bundesparteitag im pompösen Stile der US-Demokraten oder der US-Republikaner bewirkt?
Nun stellen wir uns einen SPD-Bundesparteitag im Jahr 2025 vor: Die Delegierten rufen minutenlang „Danke Olaf, wir lieben Olaf“. Ihr Olaf Scholz, der endlich wieder die Kanzlerschaft für die SPD geholt hatte, tritt nach nur einer Amtsperiode mit 67 Jahren nicht mehr an. Die SPD-Mitglieder sind dankbar, ergriffen und begeistert, dass ihr wenig geliebter, eher blasser Kanzler den Weg frei macht für eine Person wie Kamala Harris. Die SPD will wieder diese Aufbruchstimmung spüren mit dem Traum von Höhenflügen und einer überzeugenden Gallionsfigur…wie 2017, als sie den Helden von Würselen, Martin Schulz, mit 100 Prozent Zustimmung zum Kanzlerkandidaten machten. Aber wer kann diese Rolle übernehmen?
Was lehrt uns die Geschichte? Erstens, auch der ehemalige Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, konnte den Absturz der SPD nicht bremsen und landete auf den hinteren, kaum sichtbaren Bänken des Bundestags. Zweitens die SPD hatte immer Probleme mit erfolgreichen, starken Gallionsfiguren – ein absurder Widerspruch. Drittens, eine parteiinterne Euphorie reicht nicht, um eine landesweite Wahl zu gewinnen. Das sollten auch die US-Demokraten wissen.